Blinde Flecken
Millionen von Menschen wählen plötzlich Populisten? Diese Wähler sind nicht vom Himmel gefallen. Sie waren vorher Wähler anderer Parteien. Was sind die Gründe dafür? Tiefe Nachdenklichkeit und unvoreingenommene Analysen wären das Gebot der Stunde und keine schnellen oberflächlichen Antworten.
Noch nie hatten wir in Deutschland und in vielen Ländern in Europa so viel Offenheit, so viel Freiheit, so viel Demokratie. Doch Demokratie ist nie perfekt. Sie ist immer ein Projekt. Doch eine offene demokratische Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist kein Naturgesetz. Sie überlebt und entwickelt sich nur dann, wenn sie immer wieder gewollt, verteidigt und neu erkämpft wird.
Auf der Suche nach den Feinden der Demokratie zeigen viele Finger dann viel zu schnell auf den jeweils anderen. Schnell werden Menschen zu uneinsichtigen Nazis. Linke werden zu verhassten weltfremden Multikulti Anhängern. Die einen werden als Proleten, die anderen als Vertreter eines abgehobenen Establishments in die jeweiligen Schubladen gepackt. Und so fühlt sich jeder in seinem Recht. Als Bestätigung werden passende Nachrichten aus den jeweiligen Lieblingsmedien oder aus dem Internet zusammengesucht.
Doch auch das ist Demokratie. Auch das kann man, so schwer es auch ist, aushalten.
Wir müssen jedoch die ganz verschiedenartigen Wirkungen der Entwicklungen in unserer Gesellschaft, in unserem Land und in der Welt auf die so unterschiedlichen Menschen realisieren. Die bisherigen klassischen gesellschaftlichen Lager und die daraus folgenden politischen Entscheidungen und Sicherheiten lösen sich immer mehr auf. Ängste, Unsicherheit und daraus folgende negative Gefühle sind keine Domäne der sogenannten „einfachen Leute“ mehr.
Wir haben durchaus die geistigen, technischen oder kommunikativen Möglichkeiten Erkenntnisse zu erlangen und dichter an die Menschen heranzukommen. Wir schleppen nur einen schier unglaublichen Ballast an Voreingenommenheiten, an Tabus, Überzeugungen und Meinungen, sowie vermeintlich unverrückbaren Wahrheiten mit uns herum. Diese wirken wie Dünger für die „blinden Flecken“ in unserer Wahrnehmung. Diese blinden Flecken erzeugen andere Schuldige. Damit vertuschen wir unseren Beitrag zur aktuellen Situation und möglicherweise unbequeme, aber notwendige Änderungen oder Anpassungen werden wegretuschiert.
Eine stabile Demokratie hält sehr viel aus. Destruktive Wut auf alles und fürchterliche eklige Hasstiraden. Sie hält es aus, wenn Isolationismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ätzendes Gift in die Gesellschaft spülen. Sie wirken wie ein Krankheitserreger. Sie fordern das Immunsystem. Das Immunsystem der Demokratie sind die vielen Menschen die ihre Wünsche und Träume in und mit unserem Gemeinwesen verwirklichen wollen. Den Menschen die diesen Staat und unsere Verfassung als ihre Heimat verstehen und empfinden. Wenn das nicht mehr gegeben ist, dann wird es allerdings wirklich gefährlich.
Warum wählen Menschen Populisten?
Könnte es sein das unser Staatswesen an zu vielen Stellen mittlerweile versagt? Das er Fehlfunktionen aufweist? Vertrauen in den handlungsfähigen Staat bedeutet Vertrauen in unsere demokratische Verfassung. Verliert man das eine schadet es dem anderen. Unsere Demokratie verliert ihre Basis, wenn Wahlentscheidungen nicht mehr von mutigen Zukunftsentwürfen, von Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen, sondern von Wut, Unsicherheit, Angst und oder Abscheu geprägt werden.
Eine omnipräsente Bürokratie, eine jeden Lebensbereich regulierende Verwaltung ist kein Merkmal für ein funktionierendes Staatswesen. Menschen gehen unserem Staat unterwegs verloren, weil sie in unserem Verwaltungsstaat so vieles nicht mehr verstehen können.
Warum wählen die Menschen Populisten ohne Lösungen?
Weil sie vielleicht unserem Staat und seinen Realitäten oftmals fassungslos gegenüberstehen?
Sie warten monatelang auf Unterlagen deren Sprache sie dann kaum verstehen. In den Schulen bröckelt der Putz und es fehlen die Lehrer. Die Vorbereitung auf die globale Digitalisierung findet mehr im privaten Bereich aber mangels Ausstattung kaum in der Schule statt. Gerichtsentscheidungen ziehen sich über Jahre hin. Die Polizei ist ausgezerrt und zeigt sich bei vielen Delikten oft hilflos.
Die Bedingungen im Gesundheitswesen führt alle Beteiligten weit über das erträgliche Maß hinaus. Landärzte gehören schon fast einer aussterbenden Spezies an. Pflegebedürftig zu werden ist für die meisten Menschen in unserem reichen Land mittlerweile eine grässliche Vorstellung.
Bauvorhaben und seien sie noch so sinnvoll, ziehen sich über Jahrzehnte. Das Selbstverständnis und der Stolz der Menschen auf unsere Leistungsfähigkeit „Made in Germany“ wird durch völlig überbordende Problematisierungen, Langsamkeit und formellen Dilettantismus massiv beschädigt.
Was ist mit den Träumen der Menschen in den Provinzen, in den kleinen Städten und Dörfern, wenn diese immer lebensunwirklicher werden? Wenn Sparkassen, Postämter, Läden und Handel sich zurückziehen. Wenn die nächste Disco oder das Kino nur noch in Oberzentren zu finden sind und diese Entkernung der Provinzen achselzuckend zur Kenntnis genommen wird. Es gibt für all diese Entwicklungen Gründe. Doch all die beschriebenen Bestandteile eines Lebens waren der Klebstoff für Menschen in ihrer Gemeinschaft. Eine Provinz, ein Ort ohne diese Kristallisationspunkte ist lediglich eine Häufung von Häusern aber keine Heimat mehr.
Über Jahrzehnte wucherten Vorschriften und bürokratische Regeln. In diesen Umständen kommen viel zu oft politische Ideen und Menschenzentrierte Maßnahmen zum Stillstand. Ist die Orientierung am Gemeinwohl noch unser aller Fixpunkt? Wenn dieses Gemeinwohl nicht mehr das Maß der Verwaltung und der politischen Arbeit ist, dann verliert die Demokratie ihren überzeugenden Glanz.
Den Boden für Populisten bereiten sehr viele.
Unser Staatswesen ist einerseits stark und handlungsfähig, doch es häufen sich in beängstigender Weise die Fälle wo über die zuvor genannten Punkte ernste Anzeichen und Warnungen angebracht sind.
Alle Parteien beschworen vor und jetzt auch nach der Wahl die Bedeutung der inneren Sicherheit. Dort glaubt man die Wähler zurückzugewinnen.
Es ist auch überhaupt kein exotischer Wunsch von Menschen, wenn sie mehr Sicherheit wollen. Solche Fragen, Ängste und Unsicherheiten wurden viel zu oft negiert und missachtet. Doch viel entscheidender scheint mir zu sein das die Menschen die Sorge umtreibt, dass der Staat die politische Kontrolle immer weiter verliert. Dass die Demokratie, unser Staatswesen sich immer weiter zurückzieht und die grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr erfüllen könnte. Viel zu viele Menschen verbinden leider bei dem direkten Kontakt mit Politik und Staat negative Erfahrungen oder auch Wahrnehmungen. Und wenn das passiert entstehen die Effekte die wir heute bei den Wahlen wortreich beklagen.
Dagegen muss Politik vorgehen. Dies ist der einzige Weg um den Kampf gegen Wut und Hass, Nationalismus, Egoismus, Vorurteile und gegen radikale Politikentwürfe erfolgreich zu führen. Es ist das konkrete verantwortliche politische Handeln vor Ort. Ohne die angesprochenen Scheuklappen oder oberflächliche Antworten. Probleme müssen benannt, lösungsorientiert und ohne Kompetenzgerangel gelöst werden. Das entzieht radikalen Kräften den Nährboden und lässt die Unterstützung für unseren Staat wachsen. Den Menschen geht es nicht nur um die innere und äußere, um die soziale oder auch die ökonomische und ökologische Sicherheit. Wichtig scheint in erster Linie eine lebensfähige aktive funktionale Sicherheit zu sein. Und diese Erwartung ist weder klassisch links noch rechts. Sie bildet einfach die Basis unserer Demokratischen Verfassung.
Demokratieverdrossenheit kann nur durch Politikbegeisterung bekämpft werden.
Willy Brandt hatte seinerzeit gefordert das wir „Mehr Demokratie wagen“. Nur ein Staat der auf allen wesentlichen Ebenen für die Menschen sichtbar funktioniert und agiert erhält die Demokratie. Wir brauchen einen entscheidungsstarken einen auf die Zukunft ausgerichteten Staat. Dabei müssen wir neue Wege gehen und nicht versuchen in typisch deutscher Manier alles zu reglementieren oder die Menschen zu bevormunden. Unser Staat muss nur dort viel besser funktionieren wo wir alle einen berechtigten Anspruch an unseren Gemeinwesen haben. Wir werden dafür mehr Geld ausgeben müssen. Für mehr Lehrer, Schulen, Krankenhäuser, Polizisten. Wenn wir dieses Geld nicht ausgeben wird unser Staatswesen immer schwächer und anfälliger gegen Radikalismen werden. Vertrauen in unseren Staat bedeutet Vertrauen in die Demokratie. Und die, die sollten wir nicht aufs Spiel setzen.