Reformationstag und Delphine

Der Reformator Martin Luther war in seiner Zeit ein Ketzer!
Wie viele Menschen, die uns wirklich vorangebracht haben, war er ein Abtrünniger seiner bis dahin gültigen Überzeugungen. Der Scheiterhaufen war für ihn eine realistische Gefahr.

Galileo Galilei hinterfragte die damalige Überzeugung, dass die Erde eine Scheibe sei. Seine Zerrissenheit zwischen seinen abweichenden neuen Ideen zum Universum und der realen Gefahr für Leib und Leben (Verfolgung, Folter, Tod) sind in den Geschichtsbüchern dokumentiert.
Auch wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Überzeugungen. Unsere Welt wie wir sie kennen, verändert sich unaufhaltsam. Eine Veränderung und Anpassung unserer Überzeugungen aufgrund Erkenntnisgewinn ist heute in Europa ohne die Gefahr eines Scheiterhaufens möglich. Und doch tun wir uns schwer mit mutigen neuen Entwürfen für unser individuelles Leben, für unsere Gesellschaft oder eine perspektivische Politik.

Denn die Einsicht in notwendige Veränderungen kollidiert mit unseren verfestigten persönlichen, politischen, gesellschaftlichen und religiösen Überzeugungen. Menschen, Parteien, Unternehmen und Bürokratien verdrängen immer wieder die offensichtlichen Realitäten und die daraus folgenden Schlussfolgerungen.
Der Kampf um Erkenntnis ist vor allem ein Kampf gegen unsere selektive Wahrnehmung und unser stark ausgeprägtes Wunschdenken nach Kontinuität.

Überall wird nach kleinen und großen Beispielen als Bestätigung für die jeweilige Sicht der Dinge gesucht.

Wie funktioniert Wunschdenken?

Kleines Beispiel gefällig?
Viele Menschen möchten z.B gerne daran glauben, dass die so faszinierenden Delphine Menschen bewusst aus Seenot retten. Darum ranken sich unzählige Filme und Geschichten.
Viele Forscher haben sich intensiv mit diesen so empfindsamen und hochintelligenten Tieren beschäftigt. Delphine spielen für ihr Leben gerne mit all dem, was sich im Wasser befindet. Sie spielen, schieben, katapultieren dieses „Spielzeug“ durch das Wasser. Wenn Schiffbrüchige Glück haben geraten sie in der Nähe von Land an solche Delphine die sie vielleicht auch noch in die richtige Richtung befördern. Diese Erzählungen manifestieren den Glauben an diese schöne Vorstellung und verfestigt diese ein auf das andere Mal.
Es gibt sicherlich viele unglücklichen Seelen, die als Schiffbrüchige auf hoher See von den Delphinen wahrgenommen wurden. Doch sie ertranken jämmerlich als sie als Spielzeug uninteressant wurden und die Tiere sich, durchaus nachvollziehbar, den wichtigeren Dingen eines Delphinlebens zuwandten. Diese Geschichten können nicht erzählt werden. Sie stellen die andere Überzeugung also auch nicht in Frage.

Wir alle neigen dazu nur das hören und sehen zu wollen, was unsere eigenen Überzeugungen untermauert. Demagogen und Populisten nutzen diese menschliche Eigenart skrupellos. Wenn etwas passiert, was mit unseren eigenen Meinungen übereinstimmt, fühlen wir uns bestätigt. Und wenn es nicht passiert dann wird diese Bestätigung heutzutage herbeigeschrieben und in den neuen Medien tausendfach vervielfältigt. Und das nicht dazu passende wird ausgeblendet.

So leben wir zwar alle in derselben Zeit, in derselben Realität, nehmen diese aber völlig unterschiedlich wahr.

Und hier komme ich zu der Reformation zurück. Martin Luther hat es geschafft aus der Echokammer der damaligen Glaubensgrundsätze auszubrechen. Er wurde Ketzer gegen das was er selber vorgelebt, gelehrt und verbreitet hatte. Er stellte seine Überzeugung durch einen Perspektivenwechsel in Frage. Wie erfrischend wäre es heute, wenn wir alle etwas mehr bereit wären Ketzer gegen unsere eigenen Gedankengefängnisse zu werden und unsere „Überzeugungsdoktrinen“ einer reformistischen ernsthaften Prüfung zu unterwerfen?

 

 

 

 

Reformationstag und Delphine

Quo vadis Religionsfreiheit

Die Wahl ist vorbei und doch stellen wir immer wieder fest wie schwer es offenbar ist mit dem Grundwerkzeug unserer demokratischen Verfassung, dem Grundgesetz, zu arbeiten.
Warum lassen sich aufrechte Demokraten tatsächlich auf den bewusst provozierten Streit um die Religionsfreiheit ein? Weder die AfD noch irgendeine andere Gruppe hat eine, unser Grundgesetz ersetzende oder ergänzende Deutungshoheit.
Die Antwort unserer Verfassung bzgl. der Religionsfreiheit ist recht eindeutig.
Gehört der Islam heute zu Deutschland?
Selbstverständlich, denn Millionen von deutschen Staatsbürgern üben diesen Glauben aus. Fällt der Islam unter die Religionsfreiheit?
Selbstverständlich tut er das. Unser Grundgesetz definiert nicht nach guten, schlechten oder akzeptablen Religionen!
Haben Muslime das Recht aufgrund ihres Glaubens gegen Grundpfeiler unseres Grundgesetzes zu verstoßen? Nein, – haben sie keineswegs.
Eine politische oder religiöse Praxis die nicht Grundgesetzkonform ist, hat keinerlei Rechte auf einen Sonderweg!
Dies betrifft radikale Haltungen aus allen politischen oder religiösen Lagern.
Handlungen gegen die Würde, Freiheit und Unversehrtheit von Menschen, gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gegen die Meinungsfreiheit, gegen die Religions,- oder Pressefreiheit sind nicht von unserer Verfassung gedeckt. Das sind, – eine eigentlich recht einfache Feststellung, Verstöße gegen die Basis unseres demokratischen Gemeinwesens und deshalb nicht zu tolerieren.
Das gilt für muslimische Hitzköpfe sowie für rechts,- oder linksradikale Wirrköpfe.
Eine Bitte an all jene die politische, religiöse oder gesellschaftliche Barrikaden errichten. Geht einfach in die nächste Buchhandlung! Unser Grundgesetz ist wirklich lesenswert! Es mag nicht perfekt sein, aber es ist die beste Verfassung die dieses wunderbare Land jemals hatte!
Es steht auch nicht zur Disposition und beschreibt kluge Grundsätze für unser gesellschaftliches Zusammenleben.

Quo vadis Religionsfreiheit

Schach spielen….?

Ich habe mir gerade die Konstituierung des neuen deutschen Bundestages angeschaut. Es zeichnet sich ab was wir in den nächsten Jahren erleben werden.

Das Verhalten und die Körpersprache der AfD zeigt bei allen Unterschieden der Akteure eine Gemeinsamkeit. Die fast einzige und zentrale Einigkeit der AfD mündet in der konsequenten Ablehnung der allermeisten gesellschaftlichen Entwicklungen in unserem Land.
Ihr Feindbild ist die offene, tolerante, liberale Gesellschaft. Aus allen Schichten sammeln sie die Ängste und die Unsicherheiten mit den rasanten gesellschaftlichen und globalen Veränderungen.

Sie haben ihre Rolle als vermeintlich alleinige Warner und Mahner und als gemobbte Opfer des Establishments gefunden. Und sie laben sich an unserer Empörung.  Hinweise auf einen Wortschatz der nationalsozialistischen Unmenschen, auf Skandale, auf Lügen und kaum für möglich gehaltene Tabubrüche perlen einfach ab. Durch ihre Story als armes bemitleidenswertes Opfer dunkler Machenschaften macht sie das alles präsenter und stärker. Und sie spielen diese Rolle insbesondere mit und durch die Medien geschickt und voller Inbrunst.
Sie treffen auf eine Gesellschaft und politische Gegner die erst wieder lernen müssen für selbstverständlich erachtete Errungenschaften mit allen Mitteln zu kämpfen.

Als Schachspieler ist es gruselig mit anzusehen wie einfach und vorhersehbar die Züge der Populisten sind und wie ungeordnet und ohne Strategie demgegenüber die Gegenzüge der anderen Parteien immer noch ausfallen. Soll das jetzt immer so weitergehen? Wo ist der Gegenentwurf?

Bei einem guten Schachspiel werden die Grundlagen für Siege oder Niederlagen oftmals schon in den Eröffnungszügen gelegt. All jene, denen unsere Gesellschaft am Herzen liegt, sollten bei allen Unterschieden in der Parteipolitik anfangen, das neue Spiel der Rechtspopulisten mit Medien und Politik zu verstehen und eine nachhaltige Angriffsoption zu entwickeln!

Politik braucht zwar immer einen langen Atem. Doch wenn es so weitergeht wie in letzter Zeit und die wenigen aber entschlossenen Rechtspopulisten überall die Themen prägen (Beispiele gibt es auch international genug)  ist ein erfolgversprechender Angriff und offensive Verteidigung für einen Ausbau unserer demokratische Verfassung sehr viel schwerer.
Ein Spiel oder politische Tendenzen nach zu langem Zögern zu drehen ist nicht einfach. Macht man dies zu spät ist es oftmals kaum mehr möglich.

Schach spielen….?

Blinde Flecken

Blinde Flecken

Millionen von Menschen wählen plötzlich Populisten? Diese Wähler sind nicht vom Himmel gefallen. Sie waren vorher Wähler anderer Parteien. Was sind die Gründe dafür?   Tiefe Nachdenklichkeit und unvoreingenommene Analysen wären das Gebot der Stunde und keine schnellen oberflächlichen Antworten.
Noch nie hatten wir in Deutschland und in vielen Ländern in Europa so viel Offenheit, so viel Freiheit, so viel Demokratie. Doch Demokratie ist nie perfekt. Sie ist immer ein Projekt. Doch eine offene demokratische Gesellschaft ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist kein Naturgesetz. Sie überlebt und entwickelt sich nur dann, wenn sie immer wieder gewollt, verteidigt und neu erkämpft wird.

Auf der Suche nach den Feinden der Demokratie zeigen viele Finger dann viel zu schnell auf den jeweils anderen. Schnell werden Menschen zu uneinsichtigen Nazis. Linke werden zu verhassten weltfremden Multikulti Anhängern. Die einen werden als Proleten, die anderen als Vertreter eines abgehobenen Establishments in die jeweiligen Schubladen gepackt. Und so fühlt sich jeder in seinem Recht. Als Bestätigung werden passende Nachrichten aus den jeweiligen Lieblingsmedien oder aus dem Internet zusammengesucht.
Doch auch das ist Demokratie. Auch das kann man, so schwer es auch ist, aushalten.

Wir müssen jedoch die ganz verschiedenartigen Wirkungen der Entwicklungen in unserer Gesellschaft, in unserem Land und in der Welt auf die so unterschiedlichen Menschen realisieren. Die bisherigen klassischen gesellschaftlichen Lager und die daraus folgenden politischen Entscheidungen und Sicherheiten lösen sich immer mehr auf. Ängste, Unsicherheit und daraus folgende negative Gefühle sind keine Domäne der sogenannten „einfachen Leute“ mehr.

Wir haben durchaus die geistigen, technischen oder kommunikativen Möglichkeiten Erkenntnisse zu erlangen und dichter an die Menschen heranzukommen. Wir schleppen nur einen schier unglaublichen Ballast an Voreingenommenheiten, an Tabus, Überzeugungen und Meinungen, sowie vermeintlich unverrückbaren Wahrheiten mit uns herum. Diese wirken wie Dünger für die „blinden Flecken“ in unserer Wahrnehmung. Diese blinden Flecken erzeugen andere Schuldige. Damit vertuschen wir unseren Beitrag zur aktuellen Situation und möglicherweise unbequeme, aber notwendige Änderungen oder Anpassungen werden wegretuschiert.

Eine stabile Demokratie hält sehr viel aus. Destruktive Wut auf alles und fürchterliche eklige Hasstiraden. Sie hält es aus, wenn Isolationismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit ätzendes Gift in die Gesellschaft spülen. Sie wirken wie ein Krankheitserreger. Sie fordern das Immunsystem. Das Immunsystem der Demokratie sind die vielen Menschen die ihre Wünsche und Träume in und mit unserem Gemeinwesen verwirklichen wollen. Den Menschen die diesen Staat und unsere Verfassung als ihre Heimat verstehen und empfinden. Wenn das nicht mehr gegeben ist, dann wird es allerdings wirklich gefährlich.
Warum wählen Menschen Populisten?

Könnte es sein das unser Staatswesen an zu vielen Stellen mittlerweile versagt? Das er Fehlfunktionen aufweist? Vertrauen in den handlungsfähigen Staat bedeutet Vertrauen in unsere demokratische Verfassung. Verliert man das eine schadet es dem anderen. Unsere Demokratie verliert ihre Basis, wenn Wahlentscheidungen nicht mehr von mutigen Zukunftsentwürfen, von Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen, sondern von Wut, Unsicherheit, Angst und oder Abscheu geprägt werden.

Eine omnipräsente Bürokratie, eine jeden Lebensbereich regulierende Verwaltung ist kein Merkmal für ein funktionierendes Staatswesen. Menschen gehen unserem Staat unterwegs verloren, weil sie in unserem Verwaltungsstaat so vieles nicht mehr verstehen können.
Warum wählen die Menschen Populisten ohne Lösungen?

Weil sie vielleicht unserem Staat und seinen Realitäten oftmals fassungslos gegenüberstehen?

Sie warten monatelang auf Unterlagen deren Sprache sie dann kaum verstehen. In den Schulen bröckelt der Putz und es fehlen die Lehrer. Die Vorbereitung auf die globale Digitalisierung findet mehr im privaten Bereich aber mangels Ausstattung kaum in der Schule statt. Gerichtsentscheidungen ziehen sich über Jahre hin. Die Polizei ist ausgezerrt und zeigt sich bei vielen Delikten oft hilflos.

Die Bedingungen im Gesundheitswesen führt alle Beteiligten weit über das erträgliche Maß hinaus. Landärzte gehören schon fast einer aussterbenden Spezies an. Pflegebedürftig zu werden ist für die meisten Menschen in unserem reichen Land mittlerweile eine grässliche Vorstellung.

Bauvorhaben und seien sie noch so sinnvoll, ziehen sich über Jahrzehnte. Das Selbstverständnis und der Stolz der Menschen auf unsere Leistungsfähigkeit „Made in Germany“ wird durch völlig überbordende Problematisierungen, Langsamkeit und formellen Dilettantismus massiv beschädigt.

Was ist mit den Träumen der Menschen in den Provinzen, in den kleinen Städten und Dörfern, wenn diese immer lebensunwirklicher werden? Wenn Sparkassen, Postämter, Läden und Handel sich zurückziehen. Wenn die nächste Disco oder das Kino nur noch in Oberzentren zu finden sind und diese Entkernung der Provinzen achselzuckend zur Kenntnis genommen wird. Es gibt für all diese Entwicklungen Gründe. Doch all die beschriebenen Bestandteile eines Lebens waren der Klebstoff für Menschen in ihrer Gemeinschaft. Eine Provinz, ein Ort ohne diese Kristallisationspunkte ist lediglich eine Häufung von Häusern aber keine Heimat mehr.

Über Jahrzehnte wucherten Vorschriften und bürokratische Regeln. In diesen Umständen kommen viel zu oft politische Ideen und Menschenzentrierte Maßnahmen zum Stillstand. Ist die Orientierung am Gemeinwohl noch unser aller Fixpunkt? Wenn dieses Gemeinwohl nicht mehr das Maß der Verwaltung und der politischen Arbeit ist, dann verliert die Demokratie ihren überzeugenden Glanz.

Den Boden für Populisten bereiten sehr viele.

Unser Staatswesen ist einerseits stark und handlungsfähig, doch es häufen sich in beängstigender Weise die Fälle wo über die zuvor genannten Punkte ernste Anzeichen und Warnungen angebracht sind.

Alle Parteien beschworen vor und jetzt auch nach der Wahl die Bedeutung der inneren Sicherheit. Dort glaubt man die Wähler zurückzugewinnen.

Es ist auch überhaupt kein exotischer Wunsch von Menschen, wenn sie mehr Sicherheit wollen. Solche Fragen, Ängste und Unsicherheiten wurden viel zu oft negiert und missachtet. Doch viel entscheidender scheint mir zu sein das die Menschen die Sorge umtreibt, dass der Staat die politische Kontrolle immer weiter verliert. Dass die Demokratie, unser Staatswesen sich immer weiter zurückzieht und die grundlegenden Bedürfnisse nicht mehr erfüllen könnte. Viel zu viele Menschen verbinden leider bei dem direkten Kontakt mit Politik und Staat negative Erfahrungen oder auch Wahrnehmungen. Und wenn das passiert entstehen die Effekte die wir heute bei den Wahlen wortreich beklagen.

Dagegen muss Politik vorgehen. Dies ist der einzige Weg um den Kampf gegen Wut und Hass, Nationalismus, Egoismus, Vorurteile und gegen radikale Politikentwürfe erfolgreich zu führen. Es ist das konkrete verantwortliche politische Handeln vor Ort. Ohne die angesprochenen Scheuklappen oder oberflächliche Antworten.  Probleme müssen benannt, lösungsorientiert und ohne Kompetenzgerangel gelöst werden. Das entzieht radikalen Kräften den Nährboden und lässt die Unterstützung für unseren Staat wachsen. Den Menschen geht es nicht nur um die innere und äußere, um die soziale oder auch die ökonomische und ökologische Sicherheit. Wichtig scheint in erster Linie eine lebensfähige aktive funktionale Sicherheit zu sein. Und diese Erwartung ist weder klassisch links noch rechts. Sie bildet einfach die Basis unserer Demokratischen Verfassung.

Demokratieverdrossenheit kann nur durch Politikbegeisterung bekämpft werden.
Willy Brandt hatte seinerzeit gefordert das wir „Mehr Demokratie wagen“. Nur ein Staat der auf allen wesentlichen Ebenen für die Menschen sichtbar funktioniert und agiert erhält die Demokratie. Wir brauchen einen entscheidungsstarken einen auf die Zukunft ausgerichteten Staat.  Dabei müssen wir neue Wege gehen und nicht versuchen in typisch deutscher Manier alles zu reglementieren oder die Menschen zu bevormunden. Unser Staat muss nur dort viel besser funktionieren wo wir alle einen berechtigten Anspruch an unseren Gemeinwesen haben. Wir werden dafür mehr Geld ausgeben müssen. Für mehr Lehrer, Schulen, Krankenhäuser, Polizisten. Wenn wir dieses Geld nicht ausgeben wird unser Staatswesen immer schwächer und anfälliger gegen Radikalismen werden.  Vertrauen in unseren Staat bedeutet Vertrauen in die Demokratie. Und die, die sollten wir nicht aufs Spiel setzen.

Blinde Flecken

Das anständige Deutschland

Heute werden mit ziemlicher Sicherheit AfD „Politiker“ in den Bundestag einziehen.
Unsere Demokratie wird auch diesen erneuten Ansturm von hassbeseelten, unbelehrbaren rechtsradikalen Demokratiefeinden aushalten. Und doch schäme ich mich schon jetzt dafür das solche Leute es schaffen Wähler hinter sich zu bringen. Andererseits ist hier beispielhaft sichtbar wie notwendig es ist unsere Demokratie nicht als selbstverständlich zu verstehen. Demokratie wählen wir, sie ist kein Naturgesetz. Als Beispiel für ein anständiges Deutschland sollte man sich die Rede des früheren Bundespräsidenten Weizsäcker noch einmal durchlesen. Als wenn er geahnt hätte welche dunklen Gestalten aus den düsteren Kellern unserer Vergangenheit kriechen würden.

Unsere AfD Demokratiefeinde werden wahrscheinlich einen Brechreiz bekommen – also bitte lesen!

Die Rede im Internet: http://www.bundespräsident.de

 

Bundespräsident Richard von Weizsäcker
bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa
am 8. Mai 1985
in Bonn

I.

Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übergang zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa.

Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.

Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.

Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, daß Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.

Es war schwer, sich alsbald klar zu orientieren. Ungewißheit erfüllte das Land. Die militärische Kapitulation war bedingungslos. Unser Schicksal lag in der Hand der Feinde. Die Vergangenheit war furchtbar gewesen, zumal auch für viele dieser Feinde. Würden sie uns nun nicht vielfach entgelten lassen, was wir ihnen angetan hatten?

Die meisten Deutschen hatten geglaubt, für die gute Sache des eigenen Landes zu kämpfen und zu leiden. Und nun sollte sich herausstellen: Das alles war nicht nur vergeblich und sinnlos, sondern es hatte den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient. Erschöpfung, Ratlosigkeit und neue Sorgen kennzeichneten die Gefühle der meisten. Würde man noch eigene Angehörige finden? Hatte ein Neuaufbau in diesen Ruinen überhaupt Sinn?

Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft.

Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.

Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.

II.

Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit.

Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft.

Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden.

Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben.

Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten.

Wir gedenken der erschossenen Geiseln.

Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten.

Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.

Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen.

Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids,

Leid um die Toten,
Leid durch Verwundung und Verkrüppelung, Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung, Leid in Bombennächten,

Leid durch Flucht und Vertreibung, durch Vergewaltigung und Plünderung, durch Zwangsarbeit, durch Unrecht und Folter, durch Hunger und Not,

Leid durch Angst vor Verhaftung und Tod,

Leid durch Verlust all dessen, woran man irrend geglaubt und wofür man gearbeitet hatte.

Heute erinnern wir uns dieses menschlichen Leids und gedenken seiner in Trauer.

Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen.

Ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergißt die Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne, Männer, Brüder und Freunde.

Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt.

Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder einen Stein auf den anderen zu setzen, die Trümmerfrauen in Berlin und überall.

Als die überlebenden Männer heimkehrten, mußten Frauen oft wieder zurückstehen. Viele Frauen blieben aufgrund des Krieges allein und verbrachten ihr Leben in Einsamkeit.

Wenn aber die Völker an den Zerstörungen, den Verwüstungen, den Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten innerlich nicht zerbrachen, wenn sie nach dem Krieg langsam wieder zu sich selbst kamen, dann verdanken wir es zuerst unseren Frauen.

III.

Am Anfang der Gewaltherrschaft hatte der abgrundtiefe Haß Hitlers gegen unsere jüdischen Mitmenschen gestanden. Hitler hatte ihn nie vor der Öffentlichkeit verschwiegen, sondern das ganze Volk zum Werkzeug dieses Hasses gemacht. Noch am Tag vor seinem Ende am 30. April 1945 hatte er sein sogenanntes Testament mit den Worten abgeschlossen: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“

Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.

Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß.

Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, der unaufhörlichen Schändung der menschlichen Würde?

Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.

Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des

Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewußt oder auch nur geahnt zu haben.

Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.

Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.

Der ganz überwiegende Teil unserer heutigen Bevölkerung war zur damaligen Zeit entweder im Kindesalter oder noch gar nicht geboren. Sie können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben.

Kein fühlender Mensch erwartet von ihnen, ein Büßerhemd zu tragen, nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen.

Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.

Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten.

Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie läßt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.

Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Wir suchen als Menschen Versöhnung.

Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, nicht nur deshalb, weil Menschen ein solches Grauen nicht vergessen können. Sondern die Erinnerung gehört zum jüdischen Glauben.

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil,

und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist.

Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an

Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.

Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.

Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an.

IV.

Der 8. Mai ist ein tiefer historischer Einschnitt, nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Geschichte.

Der europäische Bürgerkrieg war an sein Ende gelangt, die alte europäische Welt zu Bruch gegangen. „Europa hatte sich ausgekämpft“ (M. Stürmer). Die Begegnung amerikanischer und sowjetrussischer Soldaten an der Elbe wurde zu einem Symbol für das vorläufige Ende einer europäischen Ära.

Gewiß, das alles hatte seine alten geschichtlichen Wurzeln. Großen, ja bestimmenden Einfluß hatten die Europäer in der Welt, aber ihr Zusammenleben auf dem eigenen Kontinent zu ordnen, das vermochten sie immer schlechter. Über hundert Jahre lang hatte Europa unter dem Zusammenprall nationalistischer Übersteigerungen gelitten. Am Ende des Ersten Weltkrieges war es zu Friedensverträgen gekommen. Aber ihnen hatte die Kraft gefehlt, Frieden zu stiften. Erneut waren nationalistische Leidenschaften aufgeflammt und hatten sich mit sozialen Notlagen verknüpft.

Auf dem Weg ins Unheil wurde Hitler die treibende Kraft. Er erzeugte und er nutzte Massenwahn. Eine schwache Demokratie war unfähig, ihm Einhalt zu gebieten. Und auch die europäischen Westmächte, nach Churchills Urteil „arglos, nicht schuldlos“, trugen durch Schwäche zur verhängnisvollen Entwicklung bei. Amerika hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder zurückgezogen und war in den dreißiger Jahren ohne Einfluß auf Europa.

Hitler wollte die Herrschaft über Europa, und zwar durch Krieg. Den Anlaß dafür suchte und fand er in Polen.

Am 23. Mai 1939 – wenige Monate vor Kriegsausbruch – erklärte er vor der deutschen Generalität: „Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden … Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung … Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen … Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine Rolle.“

Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt geschlossen. Das geheime Zusatzprotokoll regelte die bevorstehende Aufteilung Polens.

Der Vertrag wurde geschlossen, um Hitler den Einmarsch in Polen zu ermöglichen. Das war der damaligen Führung der Sowjetunion voll bewußt. Allen politisch denkenden Menschen jener Zeit war klar, daß der deutsch-sowjetische Pakt Hitlers Einmarsch in Polen und damit den Zweiten Weltkrieg bedeutete.

Dadurch wird die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht verringert. Die Sowjetunion nahm den Krieg anderer Völker in Kauf, um sich am Ertrag zu beteiligen. Die Initiative zum Krieg aber ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion.

Es war Hitler, der zur Gewalt griff. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bleibt mit dem deutschen Namen verbunden.

Während dieses Krieges hat das nationalsozialistische Regime viele Völker gequält und geschändet.

Am Ende blieb nur noch ein Volk übrig, um gequält, geknechtet und geschändet zu werden: das eigene, das deutsche Volk. Immer wieder hat Hitler ausgesprochen: wenn das deutsche Volk schon nicht fähig sei, in diesem Krieg zu siegen, dann möge es eben untergehen. Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden.

Es folgte die von den Siegermächten verabredete Aufteilung Deutschlands in verschiedene Zonen. Inzwischen war die Sowjetunion in alle Staaten Ost- und Südosteuropas, die während des Krieges von Deutschland besetzt worden waren, einmarschiert. Mit Ausnahme Griechenlands wurden alle diese Staaten sozialistische Staaten.

Die Spaltung Europas in zwei verschiedene politische Systeme nahm ihren Lauf. Es war erst die Nachkriegsentwicklung, die sie befestigte. Aber ohne den von Hitler begonnenen Krieg wäre sie nicht gekommen. Daran denken die betroffenen Völker zuerst, wenn sie sich des von der deutschen Führung ausgelösten Krieges erinnern.

Im Blick auf die Teilung unseres eigenen Landes und auf den Verlust großer Teile des deutschen Staatsgebietes denken auch wir daran. In seiner Predigt zum 8. Mai sagte Kardinal Meißner in Ostberlin: „Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung.“

V.

Die Willkür der Zerstörung wirkte in der willkürlichen Verteilung der Lasten nach. Es gab Unschuldige, die verfolgt wurden, und Schuldige, die entkamen. Die einen hatten das Glück, zu Hause in vertrauter Umgebung ein neues Leben aufbauen zu können. Andere wurden aus der angestammten Heimat vertrieben.

Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute versagt.

Die Willkür der Zuteilung unterschiedlicher Schicksale ertragen zu lernen, war die erste Aufgabe im Geistigen, die sich neben der Aufgabe des materiellen Wiederaufbaus stellte. An ihr mußte sich die menschliche Kraft erproben, die Lasten anderer zu erkennen, an ihnen dauerhaft mitzutragen, sie nicht zu vergessen. In ihr mußte die Fähigkeit zum Frieden und die Bereitschaft zur Versöhnung nach innen und außen wachsen, die nicht nur andere von uns forderten, sondern nach denen es uns selbst am allermeisten verlangte.

Wir können des 8. Mai nicht gedenken, ohne uns bewußtzumachen, welche Überwindung die Bereitschaft zur Aussöhnung den ehemaligen Feinden abverlangte. Können wir uns wirklich in die Lage von Angehörigen der Opfer des Warschauer Ghettos oder des Massakers von Lidice versetzen?

Wie schwer mußte es aber auch einem Bürger in Rotterdam oder London fallen, den Wiederaufbau unseres Landes zu unterstützen, aus dem die Bomben stammten, die erst kurze Zeit zuvor auf seine Stadt gefallen waren! Dazu mußte allmählich eine Gewißheit wachsen, daß Deutsche nicht noch einmal versuchen würden, eine Niederlage mit Gewalt zu korrigieren.

Bei uns selbst wurde das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt. Ihnen ist noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren. Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.

Aber es gab alsbald auch große Zeichen der Hilfsbereitschaft. Viele Millionen Flüchtlinge und Vertriebene wurden aufgenommen. Im Laufe der Jahre konnten sie neue Wurzeln schlagen. Ihre Kinder und Enkel bleiben auf vielfache Weise der Kultur und der Liebe zur Heimat ihrer Vorfahren verbunden. Das ist gut so, denn das ist ein wertvoller Schatz in ihrem Leben.

Sie haben aber selbst eine neue Heimat gefunden, in der sie mit den gleichaltrigen Einheimischen aufwachsen und zusammenwachsen, ihre Mundart sprechen und ihre Gewohnheiten teilen. Ihr junges Leben ist ein Beweis für die Fähigkeit zum inneren Frieden. Ihre Großeltern oder Eltern wurden einst vertrieben, sie jedoch sind jetzt zu Hause.

Früh und beispielhaft haben sich die Heimatvertriebenen zum Gewaltverzicht bekannt. Das war keine vergängliche Erklärung im anfänglichen Stadium der Machtlosigkeit, sondern ein Bekenntnis, das seine Gültigkeit behält. Gewaltverzicht bedeutet, allseits das Vertrauen wachsen zu lassen, daß auch ein wieder zu Kräften gekommenes Deutschland daran gebunden bleibt.

Die eigene Heimat ist mittlerweile anderen zur Heimat geworden. Auf vielen alten Friedhöfen im Osten finden sich heute schon mehr polnische als deutsche Gräber.

Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen. Es sind alles Menschen, die nicht gefragt wurden, Menschen, die Unrecht erlitten haben, Menschen, die wehrlose Objekte der politischen Ereignisse wurden und denen keine Aufrechnung von Unrecht und keine Konfrontation von Ansprüchen wiedergutmachen kann, was ihnen angetan worden ist.

Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen.

Darin liegt der eigentliche, der menschliche Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung, der von uns ausgehen kann.

Der Neuanfang in Europa nach 1945 hat dem Gedanken der Freiheit und Selbstbestimmung Siege und Niederlagen gebracht. Für uns gilt es, die Chance des Schlußstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung des nächsten Krieges bedeutete.

Die Völker Europas lieben ihre Heimat. Den Deutschen geht es nicht anders. Wer könnte der Friedensliebe eines Volkes vertrauen, das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen?

Nein, Friedensliebe zeigt sich gerade darin, daß man seine Heimat nicht vergißt und eben deshalb entschlossen ist, alles zu tun, um immer in Frieden miteinander zu leben. Heimatliebe eines Vertriebenen ist kein Revanchismus.

VI.

Stärker als früher hat der letzte Krieg die Friedenssehnsucht im Herzen der Menschen geweckt. Die Versöhnungsarbeit von Kirchen fand eine tiefe Resonanz. Für die Verständigungsarbeit von jungen Menschen gibt es viele Beispiele. Ich denke an die „Aktion Sühnezeichen“ mit ihrer Tätigkeit in Auschwitz und Israel. Eine Gemeinde der niederrheinischen Stadt Kleve erhielt neulich Brote aus polnischen Gemeinden als Zeichen der Aussöhnung und Gemeinschaft. Eines dieser Brote hat sie an einen Lehrer nach England geschickt. Denn dieser Lehrer aus England war aus der Anonymität herausgetreten und hatte geschrieben, er habe damals im Krieg als Bombenflieger Kirchen und Wohnhäuser in Kleve zerstört und wünsche sich ein Zeichen der Aussöhnung.

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Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen, wie dieser Mann es getan hat.

VII.

In seiner Folge hat der Krieg alte Gegner menschlich und auch politisch einander nähergebracht. Schon 1946 rief der amerikanische Außenminister Byrnes in seiner denkwürdigen Stuttgarter Rede zur Verständigung in Europa und dazu auf, dem deutschen Volk auf seinem Weg in eine freie und friedliebende Zukunft zu helfen.

Unzählige amerikanische Bürger haben damals mit ihren privaten Mitteln uns Deutsche, die Besiegten, unterstützt, um die Wunden des Krieges zu heilen.

Dank der Weitsicht von Franzosen wie Jean Monnet und Robert Schuman und von Deutschen wie Konrad Adenauer endete eine alte Feindschaft zwischen Franzosen und Deutschen für immer.

Ein neuer Strom von Aufbauwillen und Energie ging durch das eigene Land. Manche alte Gräben wurden zugeschüttet, konfessionelle Gegensätze und soziale Spannungen verloren an Schärfe. Partnerschaftlich ging man ans Werk.

Es gab keine „Stunde Null“, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt.

Vier Jahre nach Kriegsende, 1949, am 8. Mai, beschloß der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz. Über Parteigrenzen hinweg gaben seine Demokraten die Antwort auf Krieg und Gewaltherrschaft im Artikel 1 unserer Verfassung:

„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Auch an diese Bedeutung des 8. Mai gilt es heute zu erinnern.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein weltweit geachteter Staat geworden. Sie gehört zu den hochentwickelten Industrieländern der Welt. Mit ihrer wirtschaftlichen Kraft weiß sie sich mitverantwortlich dafür, Hunger und Not in der Welt zu bekämpfen und zu einem sozialen Ausgleich unter den Völkern beizutragen.

Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Beitrag geleistet.

Nie gab es auf deutschem Boden einen besseren Schutz der Freiheitsrechte des Bürgers als heute. Ein dichtes soziales Netz, das

den Vergleich mit keiner anderen Gesellschaft zu scheuen braucht, sichert die Lebensgrundlage der Menschen.

Hatten sich bei Kriegsende viele Deutsche noch darum bemüht, ihren Paß zu verbergen oder gegen einen anderen einzutauschen, so ist heute unsere Staatsbürgerschaft ein angesehenes Recht.

Wir haben wahrlich keinen Grund zu Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Aber wir dürfen uns der Entwicklung dieser vierzig Jahre dankbar erinnern, wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen.

– Wenn wir uns daran erinnern, daß Geisteskranke im Dritten Reich getötet wurden, werden wir die Zuwendung zu psychisch kranken Bürgern als unsere eigene Aufgabe verstehen.

– Wenn wir uns erinnern, wie rassisch, religiös und politisch Verfolgte, die vom sicheren Tod bedroht waren, oft vor geschlossenen Grenzen anderer Staaten standen, werden wir vor denen, die heute wirklich verfolgt sind und bei uns Schutz suchen, die Tür nicht verschließen.

– Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag.

– Wer über die Verhältnisse im Nahen Osten urteilt, der möge an das Schicksal denken, das Deutsche den jüdischen Mitmenschen bereiteten und das die Gründung des Staates Israel unter Bedingungen auslöste, die noch heute die Menschen in dieser Region belasten und gefährden.

– Wenn wir daran denken, was unsere östlichen Nachbarn im Kriege erleiden mußten, werden wir besser verstehen, daß der Ausgleich, die Entspannung und die friedliche Nachbarschaft mit diesen Ländern zentrale Aufgaben der deutschen Außenpolitik bleiben. Es gilt, daß beide Seiten sich erinnern und beide Seiten einander achten. Sie haben menschlich, sie haben kulturell, sie haben letzten Endes auch geschichtlich allen Grund dazu.

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Michail Gorbatschow hat verlautbart, es ginge der sowjetischen Führung beim 40. Jahrestag des Kriegsendes nicht darum, antideutsche Gefühle zu schüren. Die Sowjetunion trete für Freundschaft zwischen den Völkern ein.

Gerade wenn wir Fragen auch an sowjetische Beiträge zur Verständigung zwischen Ost und West und zur Achtung von Menschenrechten in allen Teilen Europas haben, gerade dann sollten wir dieses Zeichen aus Moskau nicht überhören. Wir wollen Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion.

 

VIII.

Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges ist das deutsche Volk nach wie vor geteilt.

Beim Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche zu Dresden sagte Bischof Hempel im Februar dieses Jahres: „Es lastet, es blutet, daß zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt. Es lasten die Waffen.“

Vor kurzem wurde in Baltimore in den Vereinigten Staaten eine Ausstellung „Juden in Deutschland“ eröffnet. Die Botschafter beider deutscher Staaten waren der Einladung gefolgt. Der gastgebende Präsident der Johns-Hopkins-Universität begrüßte sie zusammen. Er verwies darauf, daß alle Deutschen auf dem Boden derselben historischen Entwicklung stehen. Eine gemeinsame Vergangenheit verknüpfte sie mit einem Band. Ein solches Band könne eine Freude oder ein Problem sein – es sei immer eine Quelle der Hoffnung.

Wir Deutschen sind ein Volk und eine Nation. Wir fühlen uns zusammengehörig, weil wir dieselbe Geschichte durchlebt haben.

Auch den 8. Mai 1945 haben wir als gemeinsames Schicksal unseres Volkes erlebt, das uns eint. Wir fühlen uns zusammengehörig in unserem Willen zum Frieden. Von deutschem Boden in beiden Staaten sollen Frieden und gute Nachbarschaft mit allen Ländern ausgehen. Auch andere sollen ihn nicht zur Gefahr für den Frieden werden lassen.

Die Menschen in Deutschland wollen gemeinsam einen Frieden, der Gerechtigkeit und Menschenrecht für alle Völker einschließt, auch für das unsrige.

Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen hinweg versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende nimmt. Gerade daran mahnt uns das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wir haben die Zuversicht, daß der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist.

IX.

Manche junge Menschen haben sich und uns in den letzten Monaten gefragt, warum es vierzig Jahre nach Ende des Krieges zu so lebhaften Auseinandersetzungen über die Vergangenheit gekommen ist. Warum lebhafter als nach fünfundzwanzig oder dreißig Jahren? Worin liegt die innere Notwendigkeit dafür?

Es ist nicht leicht, solche Fragen zu beantworten. Aber wir sollten die Gründe dafür nicht vornehmlich in äußeren Einflüssen suchen, obwohl es diese zweifellos auch gegeben hat.

Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle.

Auch hier erlauben Sie mir noch einmal einen Blick auf das Alte Testament, das für jeden Menschen unabhängig von seinem Glauben tiefe Einsichten aufbewahrt. Dort spielen vierzig Jahre eine häufig wiederkehrende, eine wesentliche Rolle.

Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann.

Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.

An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriß, war die Ruhe zu Ende.

So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewußtsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.

Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen den Jüngeren helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wir wollen ihnen helfen, sich auf die geschichtliche Wahrheit nüchtern und ohne Einseitigkeit einzulassen, ohne Flucht in utopische Heilslehren, aber auch ohne moralische Überheblichkeit.

Wir lernen aus unserer eigenen Geschichte, wozu der Mensch fähig ist. Deshalb dürfen wir uns nicht einbilden, wir seien nun als Menschen anders und besser geworden.

Es gibt keine endgültig errungene moralische Vollkommenheit – für niemanden und kein Land! Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden.

Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren.

Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere Menschen,

gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß.

Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.

Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben.

Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.

Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.

 

Das anständige Deutschland