Fühlt ihr euch auch wie im Film?

Unglaublich – dies ist ein zwischen mir und meiner Frau oft benutztes Wort in diesen Tagen. Unglaublich! Es ist, als wenn man einen Film schaut und doch selber darin mitspielt. 

Verlassene ruhige Straßen. Gespenstische Ruhe in den Siedlungen. Die Vögel haben wenig Lärmkonkurrenz bei ihrem Gesang. 

Beerdigungen sind in meiner Heimat sonst wichtige und würdige Veranstaltungen. Sehr oft mit vielen anteilnehmenden Menschen. Jetzt werden diese schnell, intim in kleiner Runde absolviert, fast wie in der Großstadt.
Unwirklich anmutende Nachrichtensendungen in denen gezeigt wird, wie Leichen mit Gabelstaplern in Kühllaster geschoben werden. Waren dies nicht üblicherweise Szenen für Gruselfilme? 

Talk Shows mit Akteuren die jetzt auch räumlich und nicht nur inhaltlich große Distanzen haben und ein Studio ohne Zuschauer. In einer durchökonomisierten Show- Medienlandschaft bisher unvorstellbar

Das bisher als normal empfundene Leben, fast eingefroren und in Zeitlupe!

Ich fragte mich schon oft, mit was die ganzen Menschen ihre Zeit, ihr Leben so befüllen. Was sie so den lieben langen Tag tun oder getan haben. Manchmal vermutete ich wirklich merkwürdige Dinge und Beschäftigungen. Doch was machen diese Menschen jetzt eigentlich? 

Die Wünsche, Planungen und Themen, die gestern noch ganz oben rangierten (Urlaub; Events; Shopping; Partys; neues Auto etc.) rutschen angesichts der elementaren Fragen weit nach hinten.  Dorthin wo sie eigentlich auch dauerhaft hingehören.
Doch was wird passieren, wenn dieser Film endet?  

Natürlich gibt es auch einiges, was gleich bleibt und sich nicht ändert. Die unappetitlichen und bornierten Menschen sind noch genauso unangenehm wie vorher. Sie sortieren ihre jetzigen Erlebnisse in die Regale ihrer Echokammern ein. Die Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, der Hass aus ihren Statements verbreitet noch genau denselben üblen Gestank wie vor Corona.

Die Mehrheit der mitfühlenden netten Menschen sind offenbar noch netter und emphatischer geworden?  Pflegekräfte, bis zur Verkäuferin, die vorher bestenfalls zur Kenntnis genommen wurden, sind plötzlich bejubelte Held*innen (wie lange noch?)

Die etwas einfältigeren unter uns Menschen verfangen sich nach wie vor in den vielen Lügengeschichten, den Verharmlosungs,-  oder andererseits in Katastrophenlegenden. 

Die nachdenklicheren reiben sich ungläubig die Augen. Was plötzlich alles so geht…..?!

Man muss sich nur einmal vor Augen halten, dass es in Frankreich vor einigen Monaten wegen etwas höherer Dieselkosten eine riesige „Gelbwestenbewegung“ gab. Brennende Barrikaden im Zentrum von Paris. Blutige Zusammenstöße!
Der Wutbürger war unkalkulierbar. Man durfte ihn nicht reizen? Ein einfaches Tempolimit auf Autobahnen? Undenkbar! So etwas würde diesem Land eine Zerreißprobe auferlegen! 

Heute gibt es Ausgangsbeschränkungen, Sicherheitsabstände.
Staatlich veranlasste Einsamkeit.
Bei der Bekämpfung dieser Seuche werden gesellschaftliche Kräfte mobilisiert und Weichen gestellt die bei der uns alle ebenfalls bedrohenden Klimakatastrophe unvorstellbar wären.  In der Seuchenbekämpfung schauen wir vertrauensvoll auf die Wissenschaftler, hören ihnen zu und akzeptieren ihre Warnungen. Warum tun wir dies nicht auch beim Klima? 

Dort treffen wissenschaftlich fundierte Warnungen auf große Gelassenheit.
Sicherlich,  der Virus ist eine Gefahr für jeden einzelnen, für die Großeltern, die eigene Familie. Die Gefahr ist konkret.
Die Klimakatastrophe ist in vielen Köpfen eher eine Gefahr für die nachfolgenden Generationen. Ist es fair hier zwei Maßstäbe anzulegen? 

Klimaveränderungen töten auch schon heute. Da dieses stille, ungerechte, erbärmliche, brutale und massenhaftes Sterben uns aber erst einmal nicht direkt betrifft und abseits der großen Reportagen stattfindet, findet es irgendwie für uns auch nicht statt?!

Vor dem Virus fürchten sich letztendlich alle, vor der kommenden Klimakatastrophe leider nur die Vorausschauenden, mit Weitblick beschenkten Menschen?

Vielfach kursieren im Netz tiefsinnige Betrachtungen zum Virus. Es wird eine Art Sinnsuche betrieben. Doch dieser Virus ist keine Rache der missbrauchten Schöpfung an uns Menschen. Dieser Virus ist auch nicht die Strafe für die Globalisierung.
Epidemien gab und gibt es immer wieder. Wir Menschen werden von Anbeginn der Zeit begleitet von schlimmen Seuchen. Millionen lassen dabei Tag für Tag ihr Leben. Wir haben Pest, Cholera, Pocken, Lepra und Grippe erlebt.
Und nebenbei bemerkt, – die Impfgegner bereiten die nächsten Seuchen vor.

Diese Seuchen dauerten früher nur sehr viel länger bis diese überall ankamen. Und wir wussten nicht voneinander. Die Globalisierung kann man leicht verdammen, doch sie bietet Milliarden von Menschen überhaupt eine Chance am Wohlstand teilzunehmen. Deshalb wird dieser Virus die Globalisierung auch nicht stoppen.

Allerdings spüren wir die große Verletzlichkeit dieser globalen Ökonomie. Wir lernen, dass es in einer kleiner gewordenen Welt mehr Verantwortung füreinander haben.

Wie bei der kommenden Digitalisierung ist auch die Globalisierung nicht per se gut oder schlecht. Es kommt ausschließlich darauf an was wir daraus machen. 

Zurück zu unserem Film.
Ich erlebe viele Menschen die, herausgerissen aus der Hetze des Tages, ihre Verletzlichkeit spüren.
Fragen brechen hervor an den langen Tagen und in den ruhigen Nächten. Selbstverständliche Sorgen um die Arbeit, um das Einkommen, um all die Fragen der täglichen Existenz.
Aber eben auch, manchmal in ungelenke Worte gekleidet, sehr tiefgehende Fragen.
Wie sieht mein Leben, wie sieht meine Arbeit morgen aus? 

Auf der Straße entwickeln sich, in gebührendem Abstand, Gespräche über die Zeit nach der Krise. Was wird bleiben? 

In der Politik erleben und genießen wir sachliche Diskussionen statt lärmendem Streit und persönlichen Verunglimpfungen und Verletzungen. Wird Politik nach der Krise wieder in die alten Verhaltensmuster zurückfallen? Werden Parteien, Gruppen, die Medien und wir alle diesen aktuellen Zustand bewahren und schützen, oder aus Lust an der Unterhaltung wieder den Skandal, den lärmenden Streit forcieren?

Werden wir uns die Frage erlauben, ob es so undenkbar ist, dass es Phasen der Ruhe in unseren Wochen geben darf. Dass dies ein Wert an sich ist und es keinen Zwang gibt ständig über die Notwendigkeit von verkaufsoffenen Sonntagen zu philosophieren? 

Wir erleben einen strahlend blauen Himmel ohne unzählige Kondensstreifen von zigtausenden Billigfliegern. Wie finden wir das? 

Wir erleben heute in allen Bereichen eine alternative Wirklichkeit, quasi ein Experiment mit uns allen. Stellen wir uns einmal vor, so ein Experiment für ein anderes, ein entschleunigtes Leben, hätte sich ein Politiker*in in ein Wahlprogramm geschrieben. In den Schlagzeilen des Boulevards wäre er zerrissen worden. Eine Gummizelle würde ihm/ihr empfohlen aber er/sie wäre kaum in einem Parlament gelandet? 

Lehnen wir uns doch einmal zurück und sortieren unsere Erfahrungen und Erlebnisse. Wir haben heute schrecklichen Sorgen. Und doch können wir durch die ergriffenen unglaublichen Corona Maßnahmen, wie durch eine geöffnete Tür, den Blick auf eine andere Zukunft werfen als jene, die bisher so alternativlos erschien.

Fühlt ihr euch auch wie im Film?

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