Gestern hatte mein jüngstes Enkelkind Geburtstag.
Als Großeltern auf Umarmungen, auf Knuddeln und auf Nähe zu verzichten ist schlimm. Meine Frau und ich verhalten uns sehr konsequent.
Doch immer wieder schleicht sich dieselbe Frage heran.
Wie lange noch?
Die sozialen und wirtschaftlich verheerenden Auswirkungen dieser Pandemie sind noch nicht abzusehen. Unser Land und die Gesellschaft werden nach dieser Epidemie anders sein. Wann und wie werden wir dies spüren und diskutieren?
Noch nie in meinem Leben habe ich so intensiv epidemiologische Modelle verinnerlicht. Orientieren wir uns an den Kurven die allabendlich über die Fernsehschirme fließen, so könnten wir trotz des tragischen hohen Blutzolls dieser Epidemie fast aufatmen.
Wir hätten das gröbste dann fast hinter uns.
Und fast überall entsprechen die Kurven den eingeschlagenen Wegen. Jene die streng waren, haben abflachende Kurven. Die, die dem Leichtsinn, der Dummheit oder Ignoranz verfielen registrieren stark steigende Zahlen.
Die Annahmen stimmen also?!
Italien, Spanien, New York, die Hotspots der Katastrophe kommen langsam auf den Weg zurück in eine neue „Normalität“.
So soll es sein, weil wir es uns alle so sehr wünschen.
Doch wie immer, wenn ich mir nicht so ganz sicher bin – dafür gibt es doch Bücher – yeah!
Und so verschlinge ich seit Samstag mit zunehmender Ernüchterung das lesenswerte Buch von Laura Spinney
„1918 Die Welt im Fieber“ Wie die spanische Grippe die Gesellschaft veränderte.
Die Entwicklungen zwischen Viren und ihren Wirten ist eine faszinierende, wenn auch gruselige gemeinsame Geschichte.
In dem Buch von Laura Spinney wird der Verlauf der Spanischen Grippe exemplarisch beschrieben. Diese Pandemie kostete mehr Menschenleben als der erste und zweite Weltkrieg zusammen.
Kriegsfolgen werden manchmal über Generationen im kollektiven Gedächtnis bewahrt. Solche Krankheiten kaum.
Die ersten Überlieferungen von Pandemien stammen aus den Jahren 412 v.Chr. in Griechenland (Perinther Husten/ wahrscheinlich Influenza) sowie eine Pockenepidemie in Athen. Geschichtsschreiber berichten von Leichenbergen in den Athener Tempeln.
Auch diese Epidemie trat in mindestens 3 Wellen (430/ 429 und 426 v.Chr) auf. Ebenso der „Schwarze Tod“, die Beulen und die Lungenpest im Mittelalter. Sie schlugen zu, wurden kurzzeitig schwächer um danach umso brutaler nachzutreten.
Ich habe gelernt, dass fast alle großen Pandemien in unserer Geschichte in Wellen verlaufen sind.
Doch zurück zur spanischen Grippe. Der erste Krankheitsbefall in den Vereinigten Staaten ist für den 04. März 1918 notiert. 500 Millionen Menschen wurden infiziert und bis zum März 1920 tötete die Grippe zwischen 50 – 100 Millionen Menschen. Nach dem ersten Aufflackern der Grippe überschwemmte eine zweite Welle von Oktober 1918 an die Welt. Und im Januar 1919 entstand eine dritte Welle.
Die mit Abstand meisten Toten waren in der zweiten Welle zu verzeichnen.
In gleicher Weise traten die Epidemien von 1957 bis 1960 auf. Als erstes erwischte es Hongkong, dann die Vereinigten Staaten.
Und wieder waren die meisten Toten in der zweiten und dritten Welle zu finden.
Es wird viel über die berühmte Herdenimmunität philosophiert.
Doch die Erkenntnisse aus der Historie zeigen, wie schwer eine solche massenhafte Immunität (so eine solche überhaupt entsteht) zu erreichen ist. Es ist auf der Grundlage der historischen Erfahrungen nahezu unvorstellbar das die aktuellen Lockerungen bei dem Corona Virus nicht zu einer zweiten Welle heranwachsen. Und ich verstehe die Sorgen der Bundeskanzlerin über die vielfachen Lockerungen. Sie als Wissenschaftlerin weiß um diese historischen Erfahrungen.
Was könnte eine solche Entwicklung abschwächen. Warmes Wetter? Die historischen Wellenförmigen Epidemien zeigten sich ziemlich unbeeindruckt vom Wetter. Wieso sollte dieses Virus aus einer so uralten Familie anders sein?
Doch auch dann wenn der Sommer eine Rolle spielt, was wäre, wenn die Kopie der alten Ereignisse aufgelegt wird und sich eine zweite Welle mit der saisonalen Grippe im Herbst verbündet?
Ich bin in den letzten Tagen immer nachdenklicher geworden. Was würde ein solches Szenario, ein zweiter Einschlag, eine neuer Lockdown bedeuten? Politisch, wirtschaftlich, kulturell? Wie soll eine hochtourige Gesellschaft wie wir eine sind, dies überstehen?
Unser Wunschfokus ist so sehr auf die Abflachung der Kurve, auf Normalität ausgerichtet. Ich wünschte mir dies auch.
Doch was wäre, wenn Geschichte sich wiederholen würde? Wir vergessen immer öfter das es auch andere Kurven geben könnte.
Die Lektüre von Laura Spinneys Buch zeigt deutlich, dass nach den sich jetzt wieder füllenden Fußgängerzonen auch eine andere Frage entstehen könnte.
Die könnte lauten:
Gibt es eine zweite Welle wie bei allen großen Pandemien?
Wie groß wird sie sein?
Wird ihr noch eine dritte Welle folgen?
Ich bin sehr nachdenklich …..