Vor einigen Tagen habe ich einen sehr beeindruckenden Bericht über die Alzheimer Krankheit gelesen. Ich versuchte mir vorzustellen, was eine solche Krankheit für mich bedeuten könnte. Hier der amateurhafte Versuch einer Reflexion.
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Die Sonne wärmt meine Hände. Ich betrachte die alte Haut an den Fingern und die Altersflecken auf dem Handrücken. Waren die schon lange da?
Wie ein Blatt im Herbst fliegt eine Erinnerung vorbei.
In meinem Heimatdorf gab es einige sehr alte Menschen, die aussahen wie Ledermenschen. Wenn sie außer Hörweite waren, haben wir Dorfjungs uns schon mal lustig über sie gemacht. Die Haut dieser Alten war gefaltet und vernarbt wie meine alte Schultasche.
Die Eltern hatten sie von einem fahrenden Händler gekauft.
Diese Ledertasche war mein ganzer Stolz gewesen.
Wann waren denn meine Hände so alt geworden?
Ein klein wenig hatte es geregnet und ich ziehe den unverwechselbar herrlichen Duft der Birken tief in mich hinein. Dieser begleitet mich schon mein ganzes Leben lang. Es ist der Geruch meiner Heimat. Im Frühjahr Sommer und Herbst öffnen die Düfte der Natur die Schließfächer mit Erinnerungen. Sie haben immer den passenden Schlüssel.
Die Sonne wärmt mein Gesicht. Ich schließe die Augen und fühle mich wohl. Gedämpft durch die saftig grünen Büsche und Bäume kriechen Autogeräusche über den Rasen. Der Mercedes war doch ein tolles Auto – wo stand es jetzt auch noch?
Ach da ist er wieder, der Schmerz von Gedanken die ihr Ziel nicht finden und wie rasende Dämonen von einer Ecke meines Verstandes in die andere rauschen.
Immer wieder entsteht dieser Schmerz, wenn ich Gedanken habe, die keinen Anker mehr haben. Wenn sie wie Sturmwolken, herangetrieben werden. Ich weiß wann die Schmerzen kommen.
Sie sind da, wenn ich an meine Frau denke. Ein Name liegt in meinem Geist wie ein verwitterter Gedenkstein. Ein verschwommenes Gesicht wie der suchende Blick durch ein beschlagenes Fenster. Viele Gefühle branden dann hoch wie eine Sturmsee. Sie sind immer unklar, manchmal sekundenlang beängstigend schön. Lange vergessene Bruchstücke von Erinnerungen, die im Kopf herumfliegen wie eine zerfetzte Gardine im Sturmwind.
Kinderlachen auf dem Rasen. Eine junge Frau Arm in Arm mit einer alten Frau, die mir zuwinkt. Woher kennt sie mich? Meine Söhne spielen auch gerne Fußball – und wieder zuckt der Blitz im Kopf. Wie hießen die Jungs auch noch?
Weg ihr Gedanken, bitte keine rasende schmerzende Suche.
In meiner Hand halte ich ein klobiges Mobiltelefon. Unübersehbar große Tasten mit Ziffern und ein Klebeband mit einer Nummer? Lange schaue ich mir diese Nummer an. Was passiert wohl, wenn ich sie wähle?
Ich glaube, dass ich sehr viele telefoniert habe in meinem Leben. Doch mit wem?
Wie Gespenster bewegen sich Schemen in einem dichten wabernden Nebel.
Ich drücke die Tasten. Laut und deutlich hörbar kommt ein Zeichen aus dem Lautsprecher.
Ich schaue der Familie auf dem Rasen zu. Irgendwie entsteht ein Echo tief in mir drin. Doch ich gebe der Verlockung nicht nach. Blitzschmerzen würden mich quälen.
Weiße Schuhe vor mir. Ein junger Mann schaut mich freundlich an. Ist es nicht wunderschönes Wetter, fragt er.
Jetzt gibt es gleich Tee und Kuchen höre ich ihn, während er die Bremsen des Rollstuhls löst.
Ich glaube, ich hatte ein glückliches Leben. Ich schaue den jungen Mann fragend an. Wollen Sie ihrer Frau und ihren Enkeln dort auf dem Rasen noch einmal zuwinken?
Ich verstehe seine Frage nicht und denke an Tee. Ich kann ihn fast spüren und schmecke köstliches mit Käse belegtes Schwarzbrot auf dem Kartoffelacker. Angenehme wohlige Gedanken. Ich bin Kind auf einem Acker in meinem Heimatdorf.