Vor einigen Tagen habe ich mich mit einem Bekannten über das Thema Anständigkeit und Vorbildlichkeit unterhalten.
Er schilderte ein Erlebnis mit einem „feinen Kerl“.
Im Nachhinein habe ich darüber nachgedacht, welche Menschen ich mit dieser Bezeichnung in Verbindung bringen würde.
Dass mir dabei doch einige Namen eingefallen sind, erfüllt mich mit Freude.
Doch zuallererst denke ich an einen alten lieben Kollegen der manchmal auch eine Art Mentor für mich war.
Gerhard Lilienfeld war Schiffbausekretär in der IG Metall Bezirksleitung Küste.
Ein durch und durch liebenswerter Mensch. Aus meiner damaligen Wahrnehmung ein stets überakkurat angezogener, mit seiner schwarzen Hornbrille und seiner etwas linkischen Art etwas altmodisch wirkender Gewerkschaftssekretär.
Schiffbauverliebt war er und den Menschen zugewandt. Er konnte sich fürchterlich über schlimme und seiner Meinung nach falsche Entwicklungen in der Schiffbaupolitik ärgern. Dennoch habe ich ihn fast immer als überaus ruhigen und abwägenden Menschen erlebt.
Doch warum assoziiere ich Gerhard Lilienfeld bei dem Begriff „feiner Kerl“ ?
Ende der 80 er Jahre waren wir beide die deutschen Delegierten bei der Weltschiffbaukonferenz in Helsinki. Der Kongress fand im Oktober statt und ich lernte durch nicht angepasste Kleidung leidvoll, dass der Winter in Finnland deutlich früher seine kalten Finger ausstreckte, als bei uns in Ostfriesland.
Wie fast immer hingen tiefschwarze Wolken über der Zukunft vieler Werften. Die Konferenz war geprägt von deprimierenden Berichten zur dramatischen Entwicklung in unserer Industrie. Insbesondere die Berichte der Kollegen aus Griechenland, Spanien und Portugal waren bedrückend. Gleichzeitig konnte man bei den Arbeitnehmervertretern der Staatswerften das Lügen auf einem recht hohen Niveau erleben.
Zum Abschluss des zweiten Konferenztages wurde uns die Möglichkeit gegeben, Helsinki zu besichtigen. Wir besuchten die Wärtsila Werft und bewunderten das Dock, das aus dem Felsen gesprengt worden war.
Mit einem kleinen Bus wurden wir zu einigen weiteren Höhepunkten gefahren.
Und wie bei den meisten Ausflügen gab es auch hierbei die Zeit, einige Sehenswürdigkeiten auf eigene Faust zu erkunden. Gerhard hatte von der Felsenkirche gehört und wollte diese gerne besuchen. Sehr gerne verzichteten wir auf das Bummeln in der zentralen Einkaufsstraße und nahmen Kurs auf die „Temppeliaukio“ Kirche.
Sie liegt etwas westlich vom Hauptbahnhof.
Schon vor dem Krieg hatte man sich zum Neubau einer Kirche an diesem Platz entschieden. Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges verhinderte diese Pläne jedoch. Im Jahr 1961 erhielten zwei Architektenbrüder den Zuschlag für den Neubau. Sie konzipierten die Kirche völlig untypisch aber für Finnland unglaublich passend.
Ihre Idee war es, das Gotteshaus quasi in den Felsen zu sprengen.
Und so geschah es. Der Tempelfelsen wurde ausgehöhlt.
Die Wände der Kirche sind naturbelassen, unbehauen und rauh. Die Bohrungen in dem Gestein sind deutlich zu erkennen. Wie schnurgerade vertikale Tunnel von Feldmäusen lassen sie erkennen, wie viel Arbeit investiert wurde. Das nur ca. 13 Meter hohe gewölbte Kuppeldach wird von einer Vielzahl von Kupferringen gebildet. Schaut man nach oben, hat man das Gefühl einer viel größeren Höhe. Über 180 längliche Fenster lassen in faszinierenderer Weise Lichtstrahlen in diese Grotte fallen. Der Boden besteht aus massivem Holzdielen. An den Seiten des Fußbodens, dort wo die Felswand beginnt, sieht man auf den Höhlenboden. Dort sammelt sich auch immer etwas Wasser. Dadurch bekommt man fast den Eindruck auf einem Floß zu stehen. Der Altar und die Taufschale waren aus einem Felsstück gehauen. Dieser ragte aus dem Boden wie ein Stalaktit.
Als wir die Kirche betraten spielte ein Organist perfekt auf der Orgel und die schöne Stimme einer übenden Chorsängerin erfüllte den Raum.
Selten zuvor, und auch danach, hatte ich ein derart intensives spirituelles Erleben.
Wir beiden standen ergriffen in dem Gottesraum.
Festen Schrittes ging Gerhard dann zur Felswand zu unserer Rechten.
In einer Wandnische konnten Kerzen deponiert werden.
Einige Zeit vor der besagten Konferenz war eine Kollegin aus der Bezirksleitung unter tragischen Umständen aus dem Leben geschieden.
Die Art wie der Kollege mit Tränen auf den Wangen die Kerze in dieser Felsnische aufstellte und der Verstorbenen gedachte, war das ehrlichste Zeichen von kollegialer Verbundenheit, welches ich bis dahin erlebt hatte.
Vielfach machen wir uns lustig über die Arbeitswelt.
Und doch gehen Menschen dort Verbindungen ein, die haltbar und belastbar sein und ein Leben lang Bestand haben können.
Hier in Helsinki gedachte ein Mensch mit all seinen Gefühlen aufrichtig eines anderen Menschen Schicksal. Und da ich einige andere vergleichbare Erlebnisse mit Gerhard Lilienfeld hatte, vollendete dieses Bild den Gesamteindruck.
Ein feiner Mensch war das!