Es ist viel zu früh am Morgen.
4.00 Uhr und ich bin wach. Durch das offene Fenster höre ich das Rauschen der Bäume in den fast herbstlichen Windböen.
Die Informationen auf die ich gestern Abend noch lange gewartet hatte, blieben aus. Ohne Erklärung, – wie so oft.
Und da rauscht sie in diesen frühen Morgenstunden heran. Die Welle von etwas Verbitterung, gewürzt mit einer Prise Selbstmitleid.
Erklären kann ich diese Gefühle sehr wohl. Denn ein solches „vergessen werden“, hingehalten werden oder abwarten müssen, ist eine noch relativ neue Erfahrung für mich.
Ich müsste es aushalten können. Aber im Dauerfeuer von jahrzehntelangen Krisen ist mein individueller Schutzschild doch etwas beschädigt, dünner und löchriger geworden.
Ich habe die erstrebte stoische Ruhe und Geduld noch nicht so verinnerlicht, wie ich es gerne möchte.
Ein Blick nach vorne. Nur noch wenige Wochen und ich kann mich etwas zurücklehnen.
Der Rückzug aus der ersten Reihe? Eine bewusste, eine gute und eine richtige Entscheidung. Gefällt im Bewusstsein der ganz unterschiedlichen Konsequenzen.
Und doch fällt es dem alten Schlachtross irgendwie schwer.
Doch Wut oder Selbstmitleid sind so unglaublich destruktiv. Ein Mahlstrom, ein Strudel der einen Menschen verschlingen kann. Kann man sich daraus nicht befreien, zieht es einen immer weiter in den Trichter. Man wird schneller und schneller herumgewirbelt. Verliert den Überblick. Ein paranoider Teufelskreis.
Ich denke an eine Unterhaltung vor fast einem Jahrzehnt, mit einem guten Kollegen aus Frankfurt. Er arbeitete an leitender Stelle in einem amerikanischen Konzern. Dort war er eine Institution gewesen. Legenden rankten sich um seine Arbeit. Doch der Konzern hatte für seine wichtigsten Schlüsselleute die maximale Altersgrenze auf 60 Jahre festgelegt. Und dies betraf nun auch ihn. Sein Leben nach der Arbeit war gut geregelt. Er hatte viele Interessen und seine Frau freute sich auf mehr Zeit mit ihm.
Doch die letzten Monate in der Kanzlei wurden für ihn zu einer Tortur.
Wir trafen uns ungefähr 8 Monate vor seinem Ausstieg im Hamburger Hafen bei einem wunderbaren Essen und einem guten Glas Wein. Der Kollege haderte heftig mit dieser „Zwischenzeit“. Er philosophierte über vermeintliche Undankbarkeiten. Er registrierte die jungen Leute, die ihn nicht mehr um Rat fragten sondern eigene Wege gingen.
Er beobachtete die Weichenstellungen, an denen er nicht mehr beteiligt war.
Verbitterung umgab ihn, stand ihm im Gesicht, quoll aus seinen Worten. Ich antwortete ihm damals:
„Ich verstehe Dich. Du hast mein vollstes Mitgefühl. Es gibt keinen Menschen den ich kenne, dem es schlechter geht als Dir“.
Völlig verdutzt schaute er mich an und war durch diese drastische Überzeichnung plötzlich aus dem Strudel befreit.
Der Kopf war frei für die Wahrnehmung der tatsächlich vielen schönen und total glücklich machenden Dinge die geschehen waren und die noch vor ihm lagen. Schön wurde der Austausch an den ich noch gerne zurückdenke.
Selbstmitleid ist ein katastrophal zerstörerisches Denken. Und es bringt einem persönlich auch überhaupt nichts. Denn worin soll der Sinn liegen, unglücklich zu sein?
Es ist völlig egal, was wir getan oder geleistet haben.
Dies ist ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit und macht uns hoffentlich zufrieden. Für andere hat dies möglicherweise keinerlei Bedeutung.
Die Vergangenheit ist vorbei und keine Währung mit der gezahlt werden kann oder vergolten wird.
Man kann den stetigen Strom von Veränderungen beklagen, oder den Umgang mit der Gegenwart als falsch beurteilen.
Doch wenn man dies aus ganz verschiedenen Gründen nicht ändern kann oder will, dann sollte man dieser Analyse nicht auch noch die Selbstzerfleischung des Selbstmitleides hinzufügen.
Kluge Gedanken zu so früher Zeit denke ich und schlafe tatsächlich wieder ein!