Gerade verfasse ich wieder einmal Notizen zu verschiedenen Gesprächen. Dies sind ja auch irgendwie Nacherzählungen.
Und dabei fliegen meine Gedanken zurück an ein Erlebnis aus meiner Schulzeit.
Mein Buchhunger war groß. Und eine gewisse Zeit war ich geradezu besessen von den griechischen Sagen.
In der Schule hatten wir ein kleines weißes Buch mit den prägnantesten Legenden dazu erhalten. Und ich hatte ganz genaue Vorstellungen der Helden.
Im späteren Leben waren alle Filme, um und über griechische Heroen, nur schwache und unzulängliche Kopien im Vergleich mit meinen damaligen Vorstellungen.
Eines Tages arbeiteten wir in einer Deutschstunde eine der Erzählungen durch und mussten in der darauffolgenden Stunde eine Nacherzählung dazu schreiben.
Dabei machte ich einen wirklich ärgerlichen Fehler.
Statt die mir so geläufige Sage mit meinen eigenen Worten zu schildern, gab ich diese einfach Wort für Wort wieder. Zwei Tage später bekamen wir unsere Arbeiten zurück. Bei mir prangte eine unübersehbare dicke fette rote 6 auf den Blättern!
Meine Lehrerin übergab mir meine Ausarbeitung mit wütenden Blicken. „Betrug lohnt sich nicht„, zischte sie. Sie war der festen Überzeugung ich hätte, von ihr unbemerkt, irgendwie abgeschrieben. Es war ganz flüsterleise in der Klasse.
Die Blicke meiner Mitschüler*innen waren unangenehm. Und der Vorwurf des Betruges rührte an meiner Ehre.
Zuerst etwas unsicher und leise, dann aber immer energischer protestierte ich. Doch mein Widerspruch wirkte wie ein Brandbeschleuniger für den Frust meiner Lehrerin. Leider wurde ich durch meinen Tischnachbarn bei der Nachfrage, ob er von dem Betrug etwas gemerkt habe, nicht gerade unterstützt.
Er gab lediglich ein undefinierbares Genuschel von sich.
Die Auseinandersetzung eskalierte leider immer mehr und meine Lehrerin warnte mich wutbebend vor einem Termin bei dem Schuldirektor.
Ein Einlenken war ohne bedingungslose Kapitulation nicht mehr möglich. Und da ein Wymeester Junge in Ehrenfragen selten nachgibt, befanden wir uns kurze Zeit später im Zimmer von Direktor de Buhr.
Er hörte sich beide Seiten an.
Strenge Blicke beider Lehrer trafen mich wie die Blitze des Zeus (um im Bild zu bleiben).
Natürlich blieb ich bei meinem Widerspruch und stritt den Vorwurf des Betruges bei einer Klassenarbeit strikt ab. „Wir können das Ganze ja leicht klären„, meinte der Direktor. „Ich beginne eine Passage aus dem Buch und Du vervollständigst das Ganze – in Ordnung?“ Siegessicher schaute er meine Deutschlehrerin und mich an. Er schlug das kleine Heft auf und begann die entsprechende Passage vorzulesen, – hörte auf, blickte mich an und …… ich vervollständigte das Kapitel Wort für Wort.
Meine anfängliche Unsicherheit schlug um in ein siegesgewisses Grinsen.
Schon etwas hektischer wurden Seiten umgeblättert. Die nächste Passage.
Und wieder eine Kleinigkeit bei der Wiedergabe.
Der Direktor schlug die ersten Seiten auf, dann die letzten und wieder einen Part in der Mitte des Buches. Ich kannte das Buch auswendig.
Schweigen erfüllte den Raum und ich sah einen ratlosen Schuldirektor und eine Lehrerin mit einem hochroten Kopf.
„Tja liebe Kollegin„, so der Direktor. „Der Junge scheint tatsächlich das ganze Buch auswendig gelernt zu haben„. „Aber warum?“ – so seine Frage an mich.
Diese Frage war überraschend und ich hatte keine passende Antwort.
„Ich kann es eben“, stammelte ich nur und wurde in die Pause entlassen. Natürlich musste ich erzählen, wie es mir ergangen war.
Schon damals konnte ich allerdings feststellen, dass die Fähigkeit zum fehlerfreien Rezitieren griechischer Sagen nicht dazu taugt, Eindruck bei den Mädchen zu machen.
Die 6 in der Klassenarbeit wurde ersetzt. Der Vorwurf des Betruges war aus der Welt. Allerdings wurde meine Arbeit als die schlechteste Nacherzählung der ganzen Klasse beispielhaft seziert und mit einer 4 Minus abgestraft.